Das Forschungsprojekt

Internet-TV für die neue Mediengeneration

“In der Gewährleistung der Grundversorgung für alle finden der öffentlich-rechtliche Rundfunk und seine besondere Eigenart, namentlich die Finanzierung durch Gebühren, ihre Rechtfertigung.”
(4. Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. November 1986)

“Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist, durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen.”
(§ 11 Abs. 1 Rundfunkstaatsvertrag)

Das Projekt Grundversorgung 2.0 untersucht in drei Forschungsschwerpunkten, wie sich das Angebot von audiovisueller Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung im digitalen Zeitalter wandelt. Das in der Verfassung verankerte Mandat einer medialen Grundversorgung steht heute in einem vielfachen Spannungsfeld zwischen öffentlich-rechtlicher und privatwirtschaftlicher Organisation, zwischen Wirtschafts- und Kulturgut, zwischen Rundfunk und Internet, zwischen den Generationen und ihren Medienkulturen und zwischen nationalstaatlicher und europäischer Regulierung.

Ausgangshypothese im Forschungsprojekt ist, dass die öffentlich-rechtliche Grundversorgung der digitalen Generation ins Internet zu folgen hat, um weiter seine Funktion erfüllen zu können.

Der rundfunkrechtliche Wechsel von der Gerätegebühr zum Haushaltsbeitrag im Januar 2013 und der Verlust einer gemeinsamen Medienerfahrung aller Altersgruppen in Form des öffentlich-rechtlichen Fernsehens („Generationenabriss“) machen die Gegenwart zu einer entscheidenden Phase in der Geschichte der Grundversorgung, die das Projekt analytisch, empirisch und kritisch begleiten wird. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den medienwirtschaftlichen Effekten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und auf den Potentialen für die Region Lüneburg.

Fragestellungen

  • Wie begründet sich historisch der Gesellschaftsvertrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und wie wird er unter digitalen Bedingungen neu ausgehandelt?
  • Welche neuen Formen, ihre demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse zu erfüllen, entwickelt die Gesellschaft im Internet-Zeitalter?
  • Welche Rolle kann angesichts der Überfülle an Meinungen im Internet der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Medium und Faktor der Meinungsbildung spielen?
  • Das Bundesverfassungsgericht hat nicht nur den Bestand, sondern auch die Weiterentwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Internet garantiert. Doch wie soll er die Potentiale der digitalen Kommunikation entwickeln, wenn ihm auf Druck privatwirtschaftlicher Interessen enge Grenzen auferlegt werden (z.B. aktuell in der Auseinandersetzung um die Tagesschau-App)?
  • Die öffentlich-rechtlichen Anstalten sind die wichtigsten Auftraggeber für Bewegtbildproduktion in Deutschland. Wie werden sich die Beschäftigungseffekte in Zukunft entwickeln?

 

Forschungsschwerpunkte

Die Herausforderung für das Forschungsprojekt stellt sich von zwei Seiten: aus der Welt des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und aus der des Internet. Das Projekt wird sie unter den Arbeitstiteln Öffentlichkeit und Peer-Strukturen angehen. Ein dritter Fokus auf Nutzerinteraktion ist stärker anwendungsorientiert und wird in Kooperation mit externen Partnern durchgeführt. Ein vierter, nicht nur methodisch ausgerichteter Schwerpunkt trägt den Arbeitstitel Wissenstechnologien. Schließlich werden die Erkenntnisse aus dem Projekt für Lehre und Ausbildung systematisiert und nutzbar gemacht. Das Projekt wird in enger Zusammenarbeit mit den anderen Laboren und Projekten im Zentrum für Digitale Kulturen (CDC) durchgeführt.

Öffentlichkeit

“Öffentlichkeit ist ein historischer Begriff von bemerkenswerter Schwammigkeit.”
(Negt/Kluge, 1972)

Das Konzept der Öffentlichkeit ist eng mit dem Projekt der Aufklärung und der Demokratie verbunden. Wenn der Souverän das Volk ist, müssen Entscheidungen aus seiner Meinungs- und Willensbildung hervorgehen. Bürgern müssen dazu die relevanten Informationen vorliegen, damit sie sich eine Meinung bilden können, und sie müssen diese Meinung öffentlich äußern können. Öffentlichkeit ist dann der Ort, an dem die widerstreitenden Interessen und Meinungen in der Gesellschaft aufeinandertreffen und kommentiert, situiert, widerlegt, parodiert, immer wieder neu bewertet und schließlich übersetzt werden in den politischen Entscheidungsprozess, dem sie als ‘Vierte Gewalt’ an die Seite gestellt ist.

Grundversorgung 2.0 rekonstruiert die Geschichte dieser Rhetorik und der vor allem demokratietheoretischen Begründungen von Öffentlichkeit und von öffentlich-rechtlichen Medien, die in den Sozialwissenschaften (Sennett, Habermas, Anderson, McChesney, Luhmann, Curran, Dahlgren, Schulze, Gripsrud etc.), im Rundfunkrecht (Bundesverfassungsgericht, Kirchhof, Papier, Hoffmann-Riem, Prosser etc.) und in der öffentlichen Debatte selbst formuliert worden sind.

Mediale Botschaften wecken mit Grund immer den Verdacht der Manipulation, der Propaganda, der Unwahrheit. Der Rundfunk wird aufgrund der Knappheit der verfügbaren Frequenzen, des erforderlichen außergewöhnlich hohen finanziellen Aufwands und seiner besonderen Bedeutung bei der Meinungsbildung (siehe beispielhaft die Erfahrung der medialen Gleichschaltung im Nationalsozialismus) traditionell in einer Sondersituation gesehen. Sie begründet eine besondere Regulierung, die fern von Staat und Markt die Gemeinwohlorientierung dieser medialen Öffentlichkeit sichern soll, und deshalb durch Beiträge aller Bürger finanziert wird. Dabei geht es um den Regulierungsrahmen, die beteiligten Institutionen, Fragen der Legitimation, Repräsentation, Delegation und Alternativen, die dazu vorgeschlagen worden sind. Dazu gehört auch die Infragestellungen dieses Konzepts von Öffentlichkeit durch die postmoderne Verabschiedung der Großen Erzählungen (Lyotard), durch eine Fragmentierung von Öffentlichkeit, seit Einführung des dualen Systems durch privatwirtschaftliche Wettbewerber, durch den Medienwechsel ins Internet usw.

Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach 1945 in Deutschland und anderen Ländern. Ziel der Untersuchung ist es, Begründungen für die Fortschreibung des Grundversorgungsmandates im Internet-Zeitalter zu erarbeiten.

Peer-Strukturen

“Never doubt that a small group of committed citizens can change the world.”
(Margaret Mead)

Medientechnologisch konvergieren im Internet Telefonie und Informatik, Individual- und Massenkommunikation. Soziologisch eröffnet dies allen Angeschlossenen die Möglichkeit, miteinander und öffentlich zu sprechen. In den 1990ern wurde das Neue unter den Stichwörtern Multimedia und Hypertext, Interaktion und Partizipation, Cyberspace und dessen Unabhängigkeit von allem Überkommenen (Barlow) verhandelt. Hohe Erwartungen richteten sich auf eine größere Bürgerbeteiligung an Öffentlichkeit und Politik. Umgekehrt wurde eine Zersplitterung in Teilöffentlichkeiten befürchtet, die untereinander nicht mehr kommunizieren. Aber auch die Vision vom ‘Internet der 500 Fernsehkanäle’ war weit verbreitet und bestätigte die Erkenntnis, dass jedes neue Medium seine Vorläufer zum Inhalt hat, bevor es zu sich selbst findet.

Ein erster Schritt, den das Internet zu sich selbst nahm, so die Ausgangshypothese, wurde Ende der 1990er öffentlich sichtbar. Software war gerade erst zu einer eigenständigen Industrie geworden, da zeigte GNU/Linux und andere freie Software, auf der das Internet beruht, das sich eine neue Produktionsweise entwickelt hatte. Yochai Benklers Begriff der ‘Allmende-basierten Peer-Produktion’ benennt die beiden Merkmale: ein in einer Freilizenz artikuliertes Gemeinschaftsgut (Allmende) und eine offene freiwillige Kooperation ohne Hierarchie eines Unternehmens, unter Gleichen (Peers). Die Wikipedia ist ein weiteres initiales Beispiel. Sie löst bis heute Erstaunen darüber aus, wie eine in offener Kooperation erstellte Enzyklopädie, in der jeder alles editieren kann, die Britannica ausstechen konnte. 1999 brachte dann Napster Peer-to-Peer-Distribution in aller Munde.

Prosumer (Toffler), Produser (Bruns), kollektive Intelligenz (Lévy), Schwarm (Beni/Wang), Crowd (Surowiecki, Howe) – die Begriffsbildung für die neuen soziokulturellen Verhältnisse ist noch nicht abgeschlossen. Da, wie die Foundation for P2P Alternatives (Bauwens) zeigt, das Feld der relevanten Phänomene unter dem Peer-Begriff zu fassen ist, wird er diesem Forschungsschwerpunkt als Arbeitstitel dienen.

Diese Phänomene entfalten sich jenseits der Jahrtausendwende vor allem in den sozialen Netzwerken des Web 2.0. Peer-Strukturen sind bereits in vielen Bereichen entstanden: Peer-Produktion (Nachrichten, Film usw.), Peer-Distribution (BitTorrent, RapidShare usw.), Peer-Finanzierung (Kickstarter, Flattr usw.), Peer-Mobilität (Car-Sharing, Couch-Surfing usw.), Peer-Gesundheit (unter Patienten wie unter Medizinern), Peer-Politik (Liquid Democracy usw.). Letztere hat direkte Folgen für die Neubestimmung von Öffentlichkeit und damit für den öffentlich-rechtlichen Grundversorgungsauftrag. Das Forschungsprojekt untersucht Peer-Strukturen als neue Form der Sozialität und der privaten und öffentlichen Meinungsbildung und richtet sich dabei vor allem auf Bewegtbilder.

  • Werden YouTube und Google-TV das Fernsehen abschaffen?
  • Ist Twitter ein soziales oder ein Nachrichtenmedium?
  • Ist Facebook die neue Öffentlichkeit?
  • Sperrt uns algorithmische Informationsfilterung in die ‘Filterblase’ der ‘persönlichen Öffentlichkeit’?
  • Bildet sich über der Vielzahl von Stimmen und Kanälen eine neue Form von gesamtgesellschaftlicher Öffentlichkeit als emergenter Effekt von “Weak Ties” (Granovetter)?
  • Wie ist der öffentlich-rechtliche Grundversorgungsauftrag in diesem Feld der Meinungsbildung neu zu definieren?
  • In welchen Formen und in Bezug auf kooperiert Menschen?
  • Wie werden kollektive Steuerung und Entscheidungsfindung organisiert?
  • Wie sieht das Medienuniversum aus, das Peers einander über P2P-Distribution zur Verfügung stellen?
  • Was können wir daraus lernen über die neu entstehenden Beziehungen zwischen Kreativen und Publikum?
  • Wie nachhaltig und wie skalierbar ist Peer-Finanzierung?
  • In welchem Verhältnis steht die wachsende Bereitschaft, freiwillig für die Produktion von Bewegtbild zu bezahlen, zur abnehmenden Bereitschaft, unfreiwillig für das öffentlich-rechtliche Angebot zu bezahlen?
  • Was lässt sich für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk im 21. Jahrhundert für die Gesellschaftsbeobachtung und die eigenen Governance-Strukturen aus Peer-Systemen lernen?

Durch die Untersuchung dieser und weiterer Fragen möchte Grundversorgung 2.0 die medienwissenschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Dimensionen und Dynamiken von internetgestützten Peer-Strukturen identifizieren. Der Fokus liegt dabei auf der Produktion, Finanzierung, Weiternutzung und Distribution von audiovisuellen Inhalten und auf den an sie anzulegenden Kriterien einer öffentlich-rechtlichen Grundversorgung.

Wissenstechnologien

Der dritte Forschungsschwerpunkt richtet sich auf das empirische methodische Vorgehen im Projekt. In einer frei programmierbaren, algorithmisch steuerbaren Umgebung muss Mediennutzungsforschung andere Strategien finden als in der analogen Medienwelt. Auch hier bildet die Geschichte der empirischen Sozialforschung den Ausgangspunkt. Der Fokus der Forschung liegt auf den neuen Möglichkeiten, auf die unaufhörlichen Datenströme im Internet zuzugreifen. Social Media Plattformen und Archive (Wikipedia, Europeana, das Internet Archive, Twitter, YouTube und andere Angebote von Google, Flickr) bieten Schnittstellen zu Inhalten, Metadaten und Nutzungsdaten. RSS-Feeds sind nützliche Quellen von Echtzeit-Datenströmen aus der Blogosphäre. Die Datenbestände der öffentlichen Hand sind eine weitere wachsende Quelle, die es erlaubt, demographische und andere Bezüge zur Mediennutzung herzustellen. Ganz eigene Herausforderungen wirft die empirische Untersuchung von Filesharing auf, ob in klassischen Peer-to-Peer-Netzen oder über andere Verfahren wie Filehoster und Newsgroups. Bislang haben nur wenige Sozialwissenschaftler hier eigene Daten erhoben. Hier erschließt das Projekt methodisches Neuland.

Der Einsatz der genannten datenintensiven Verfahren in den Sozial- und Geisteswissenschaften und der Informatik hat jüngst ein eigenes Feld des Social Computing und einen eigenen Wettbewerb, den „Digging into Data Challenge“, hervorgebracht. Zentren, an denen diese Verfahren entwickelt werden, sind die Digital Methods Initiative (Latour & Rogers) und die Software Studies (Fuller, Manovich, u.a.).

Wissenstechnologien verändern nicht nur die sozialwissenschaftliche Forschung, sondern zivilgesellschaftliche, journalistische und damit natürlich auch öffentlich-rechtliche Informationspraktiken. Datenjournalismus wird an ersten Universitäten und Fachhochschulen als eigenständiger Studiengang unterrichtet und mit den ersten Preisen ausgezeichnet. Daher sind die zunehmenden algorithmischen Operationen auf großen Datenbeständen ihrerseits in ihren Auswirkungen und Potentialen für die Selbstbeobachtung der Gesellschaft zu untersuchen.

Schließlich behandelt dieser Forschungsschwerpunkt die Strategien des Wissensmanagements im Semantischen Web. Seit Tim Berners-Lee das Konzept 2001 im Rahmen des World Wide Web Consortiums (W3C) vorschlug, ist die Zahl der Sites, die Informationen semantisch auszeichnen, explodiert. Das eröffnet nicht nur der sozialwissenschaftlichen Forschung und dem Journalismus neue Möglichkeiten. Auch bei der Entwicklung eines Bewegtbild-Angebots im Internet sind semantische Techniken einzubeziehen.