Grundversorgung in 140 Zeichen?

Abschweifungen zur Zukunft der öffentlich-rechtlichen Medien

Die Informationsflut wird täglich größer, der Aufwand für Sichtung und Auswahl steigt, die Zeit für die Auseinandersetzung mit dem, was uns wichtig ist, wird immer knapper. Ist also weniger mehr?

erschienen in: Markus Beckedahl und Andre Meister (Hrsg.), Jahrbuch Netzpolitik 2012 – Von A wie ACTA bis Z wie Zensur, Verlag: epubli GmbH, Berlin 2012

Schreiben

Disintermediation war ein Zauberwort der Boom-Phase des Internet in den 1990ern. Cutting out the middleman. Wer etwas zu sagen hat, kann es sagen, in Schrift, Bild und Ton, einem potentiellen Publikum von heute zweieinhalb Milliarden Menschen oder 34,3% der Weltbevölkerung. Ohne erst das Nadelöhr der Verlage, genauer ihrer Zerberusse, der Lektoren, Redakteure, A&R’s usw., passieren zu müssen, also derjenigen, die meinen zu wissen was gut ist und wer es verdient, aus der Unterwelt der Unsichtbarkeit ans Licht der Öffentlichkeit zu gehievt zu werden. Ohne die Intermediäre der ‘Massenmedien’ im Sinne der traditionellen Kommunikations- und Medienwissenschaft (Presse und Rundfunk) und dessen, was im US-Amerikanischen Kollektivsingular the media heißt (‘The media is the Fourth Estate.’ Was jemandem, der Latein gelernt hat, die Fußnägel kräuseln lässt – von den sich daran anschließenden Pluralisierungen mediums und medias ganz zu schweigen.) Wohl aber und gerade dank dessen, was die neuere Medienwissenschaft als Medium erkannt hat: des Computers. Nach Reichweite ist das Universalmedium längst zu dem Massenmedium geworden, dass alle anderen übertrifft, doch mit den Nadelöhren der alten Zentrum-an-alle-Medien hat es nur noch unter anderem zu tun.

Jede und jeder unter den zweieinhalb Milliarden Menschen mit Internetzugang (von den Hunden und anderen Haustieren ganz zu schweigen) kann eigene Artikel, Fotos, Videos, Musik, Apps veröffentlichen. Sie kann das tun, wo alle es tun: auf Youtube, Facebook, iTunes, Flickr, Twitter, Amazon. Will sie Geld verdienen, kann sie auf die Selbstverlagsangebote von YouTube (‘Revenue Sharing’ oder deutsch ‘Monetarisierung’: 55% der Werbeeinamen gehen an die Autorin, nur verrät Google nicht, wie hoch die sind), iTunes (für Apps: 70% der Verkaufserlöse, für Musik eingepflegt über Tunecore o.ä. ca. 70%), Amazon (70%) setzen. Oder, wenn ihr die neuen Gatekeeper (ihre Monopolstellung, ihr Profit aus der Aktivität der Vielen, ihre Datenschutzregeln usw.) nicht behagen, kann sie auf dem Internet Archive, Jamendo oder per Bittorrent veröffentlichen. Wer mit dieser Haltung Geld verdienen möchte, kann auf Vodo.net, Magnatune oder Peer-Funding setzen.

Die neuen Intermediäre mögen neue Probleme mit sich bringen, (deren Lösungen im Prinzip bekannt sind: gegen Konzentration Verteilung (Diaspora statt Facebook), gegen Überwachung Kryptographie, gegen Monopolprofite alternative Ökonomien) – eines sind sie nicht: selektiv (abgesehen von Inhalten, die ihnen Klagen einbringen können: Volksverhetzung, Verstöße gegen Persönlichkeitsrechte, Urheber-, Markenrechte usw.). Es gibt neue Gatekeeper, aber die Tore stehen weit offen, meist in beide Richtungen.

Lesen

Der Segen ist zugleich ein Fluch. Ich kann potentiell zweieinhalb Milliarden Menschen erreichen, sie aber auch mich. Das wirft die Frage auf: Wie kann ich in diesen Fluten navigieren? Wie finde ich, was mich interessiert? Wer filtert das alles für mich? ‘Alle, natürlich’, wird die geneigte Leserin des Netzpolitik-Jahrbuchs spontan antworten, wohlwissend, das ‘Suchmaschinen’ keine zielführende Antwort ist.

Was gut ist, setzt sich durch. Wo könnte die alte Weisheit, die uns aus der Bierwerbung entgegenschallt, wahrer sein als im Internet? Sicher: Gutheit liegt im Auge des Betrachters. Aber: Viele Augen sehen mehr. Metriken für Qualitäten fallen ganz von selbst aus dem Internet und täglich werden neue hinzu implementiert.

Was viele verlinken, steht in den Suchmaschinen oben. Ebenso, was viele Views auf Youtube bekommt, Pins auf Pinterest usw. Aber ist tatsächlich gut, was viele sehen, oder sehen es vielmehr viele, weil viele es sehen? Und wie viele von den Vielen sind Bots oder SEO- und social marketing Dienstleister?

Die Aktivitäten der Vielen erlauben durch Analyse von großen Datenmengen, z.B. Suchanfragen, interessante Erkenntnisse. So lassen uns Google Trends & Zeitgeist Aufkommen und Umlaufgeltung eines Begriffs, z.B. ‘Leistungsschutzrecht‘, das rasche Abklingen des Interesses an Fukushima nach März 2011 und das stetig abnehmenden Interesse am Thema ‘geistiges Eigentum’ sehen. Doch diese Erkenntnisse gibt es immer nur im Rückspiegel. Für meinen Tagesbedarf helfen sie wenig.

Schauen wir, wie sich der auf Youtube decken lässt. Unter der ‘Kategorie’ ‘Nachrichten’ finden sich auf den drei Bildschirmen ‘Top-News’ fasst nur arabische und einige türkische Beiträge und eine drei Wochen alte Tagesthemen-Sendung. Nun sind Ägypten und Palästina ohne Frage wichtige Themen, aber spiegelt das tatsächlich die Popularität unter den in Deutschland geklickten Nachrichten-Clips wieder? Die aus meiner Klickgeschichte algorithmisch bestückten ‘Empfehlungen für dich’ zeigen meist mehr vom gleichen, was mich, wie bei Amazon-Empfehlungen, in aller Regel nicht interessiert. Zielführender sind da schon die abonnierbaren Kanäle. Aber selbst mit einer gut gemixten Filterblase (ARD, Euronews, Al Jazeera, Netzpolitik usw.) läßt sich so schwerlich ein informativer TV-Abend zusammenklicken. Die Weiterzapprate ist beim konventionellen TV deutlich geringer und die Öffentlichen-Rechtlichen stellen nur einen Bruchteil ihres Programms auf Youtube. Direkte Suche nach geeigneten Wörtern (z.B. ‘Leistungsschutzrecht’) dagegen liefert einen recht informativen Überblick. Fazit: Für die Deckung des täglichen Informationsbedarfs oder ein unterhaltsames Abendprogramm unbrauchbar.

Dann doch lieber meine Freunde auf Facebook & Co als Filter. Die meisten von ihnen teilen mindestens eines meiner Interessengebiete. Die Wahrscheinlichkeit, dass, was sie interessant finden, auch mich interessiert, ist also ziemlich hoch.

Eine willkürliche Stichprobe auf Facebook ergibt vor allem Persönliches: Musik, Fotos vom Nachwuchs, Essen, Reisen, Meldungen in mir auch mit Übersetzungen nicht verständlichen Sprachen und Fonts, die nicht dargestellt werden (Sanskrit?). Bonmots aus dem täglichen Leben und zeitlose Spruchweisheiten (‘Videos schauen verstärkt das Aufmerksamkeitsdefizit. Was wollte ich hier gleich wieder machen?’). Und dazwischen Neuigkeiten über Bradley Manning, die WCIT in Dubai und über den Papst, der seine offiziellen Twitter-Account @pontifex gestartet hat. Und nicht zu vergessen: Markus Beckedahl, der ein Netzpolitik Jahrbuch 2012 ankündigt. Fazit: Eine deutlich höhere Trefferquote bei für mich relevanten Tagesereignissen und Kommentaren. Und dennoch bleibt eine Zufälligkeit in dem, was durch diesen Filter aufscheint. Umfassend informiert fühle ich mich danach nicht.

Oder doch der Markt? Der ist schließlich auch ein Filter in dem alle an der Kasse abstimmen. Aber da geht es mir wie mit den meist-geklickten Videos auf Youtube: Auf den Bestsellerlisten finden ich selten etwas, das mich interessiert.

Oder die Profis? Die meinungsmachenden Journalisten, Großkritiker, Alpha-Blogger? In meine Blogroll tauche ich regelmäßig ein. Doch auch hier bin ich mir bewusst, dass ich mich in einer selbstgewählten Filterblase bewege.

Rundfunken

In der digitalen Gesellschaft stapft der öffentlich-rechtliche Rundfunk wie ein Dinosaurier herum, noch dazu mit Fußfesseln. Wie könnte man ihn auf Trab bringen, damit er uns bei unserem täglichen Bedarf nach Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung das Leben leichter macht?

Das Programmschema einer Station linear durchzuschauen, ist es sicher nicht. Serendipity, also Zappen bringt mehr Vielfalt, aber in die letzten drei Minuten einer spannenden Reportage zu geraten, bringt mehr Frust als Freude. Immerhin kann ich dann Mediathek.app darauf ansetzen. Im EPG kann ich mir wieder meine persönliche Filterblase bauen, doch auch hier im Bewusstsein der Beschränkung auf einige Suchwörter und selbst dann noch mit Streuverlusten.

Anstalten und Geräteindustrie wollen uns als Lösung neue, ‘interaktive’ hbbTVs und SmartTVs verkaufen. Danke, nein danke, ich habe schon vier Computer.

Alles nicht befriedigend. Unsere Navigationswerkzeuge sind noch unterentwickelt. Algorithmen bringen interessante kollektive Muster zu tage, aber solange wir nicht einschätzen können, was sie alles nicht sehen und nicht gezielt Einfluss nehmen können auf ihre Auswahl, sind sie keine Lösung für die private und öffentliche Meinungsbildung.

Menschliche Intelligenz mit einem Einschlag Personalisierung und das in einem kompakten Mikroformat – das wär’s.

Für die private und öffentliche Meinungsbildung sind traditionell die öffentlich-rechtlichen Medien zuständig. Und sie gelten als ‘Garant für Qualität’.

Wie wär’s also mit einem öffentlich-rechtlichen Twitter- (besser: Statusnet-) Angebot? Eine Redaktion stellt Feeds in verschiedenen Rubriken zusammen, über die ich mir jederzeit, ob auf dem Handy unterwegs oder auf dem heimischen Beamer, einen Überblick verschaffen kann über Politik, Kultur, Medien, Sport. Die Tweets enthalten aussagekräftige Kurztexte und Links auf nach journalistischen Kriterien ausgewählte Beiträge, natürlich aus der laufenden Produktion der Anstalten selbst und ihrer öffentlich-rechtlichen Partner im Ausland, auf Beiträge aus ihren Archiven, die für aktuelle Entwicklungen relevant sind – der vollständigen Archive, nicht der künstlich auf sieben Tage verkürzten – und ebenso auf gründlich recherchierte, vertrauenswürdige und qualitätvolle Internet-native Beiträge auf Blogs, Vlogs und Podcasts. Deren Urheber würden, da sie nun zum öffentlich-rechtlichen Informationsangebot beitragen, auch an den öffentlich-rechtlichen Beiträgen partizipieren. Eine “Stiftung Internet”, die mit einem Prozent der Rundfunkabgabe, also rund 80 Millionen Euro ausgestattet ist, würde dem freien Journalismus, der Bildberichterstattung und anderen Kreativen im Internet einen gewaltigen Aufschwung verschaffen, und damit der Vielfalt in der Meinungsbildung.

Schließlich filtert mein Client die Feeds und lernt, dass mir bestimmte Sendungen oder Formate nicht gefallen und ich zu diesem Thema gern mehr, zu jenem weniger hätte. Was mir angezeigt wird, kann ich auch runterladen, in offenen Standards und unter einer Freilizenz, die Remixing erlaubt.

Wenn zu alledem nicht nur mein lokaler Filter, sondern auch die Redaktionen ‘interaktiv’ werden, also nicht nur auf meine Klicks, sondern auch auf meine Vorschläge hören und dazu lernen, so dass wir alle besser informiert und klüger werden, dann wäre das eine Grundversorgung, die ich mir gefallen ließe.

Ob die Zukunft der öffentlich-rechtlichen Medien in diese oder eine ganz andere Richtung gehen wird, ist die Millionen-Euro-Frage. Aber auch ohne Kristallkugel lässt sich voraussagen, das 2013 das Jahr des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird. Mit dem ersten Tag des Jahres tritt die Haushaltsabgabe in kraft. Voraussichtlich ebenfalls Anfang des Jahres wird ‘Germany’s Gold’ starten. Unter dem Arbeitstitel wollen ARD und ZDF ‘das Beste aus 60 Jahren deutscher Fernsehgeschichte’ anbieten, gegen Pay-per-view, Abo und Werbung. Schließlich wird das Bundesverfassungsgericht sein Urteil über die Staatsferne des ZDF sprechen, dessen CDU-dominierter Verwaltungsrat 2010 den langjährigen Chefredakteur des ZDF Nikolaus Brender abserviert hatte.

Ebenfalls 2010 hat die Netzgemeinschaft sich erstmals in der Rundfunkpolitik engagiert und den 14. Rundfunkänderungsstaatsvertrag zum Jugendmedienschutz abserviert. Drei Jahre in der Offline-Welt, – wenn die alte Regel noch stimmt, 21 Jahre in der Internet-Welt – werden dann vergangen sein, also die Reifezeit vom Krabbeln bis zum Studium. Man darf auf das Jahr der öffentlich-rechtlichen Medien gespannt sein.

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