In einem Raum des Verwaltungsgerichts Gießen findet im Juli 2011 eine von der Öffentlichkeit unbemerkte, aber dennoch folgenreiche juristische Entscheidung statt. Zum ersten Mal in Deutschland wird der Computer eines Schuldners grundsätzlich für unpfändbar erklärt. Ein arbeitsloser Mann, dessen Notebook bei einer Zwangsvollstreckung beschlagnahmt wurde, klagt auf Herausgabe des Geräts, weil er es zur Bewerbung bei verschiedenen Arbeitgebern benötige. Der Richter gibt ihm recht und beruft sich auf ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach „informationstechnische Systeme allgegenwärtig und für die Lebensführung vieler Bürger von zentraler Bedeutung seien“. Noch im Jahr 2007, im „Münchner Kommentar“ zur Zivilprozessordnung, galt der Computer als „grundsätzlich pfändbar“, zählte also zu den luxuriösen Gegenständen, die ein Gerichtsvollzieher konfiszieren kann. Vier Jahre später hat sich diese Bewertung ins Gegenteil verkehrt: Computer und Laptops zählen nun, wie das Radio, der Fernseher oder auch der Kühlschrank und die Waschmaschine, zu den unerlässlichen Bestandteilen des Haushalts.
Worin besteht eine menschenwürdige Existenz? Und bis zu welcher Schicht kann der gepolsterte Überfluss des täglichen Lebens abgetragen werden, bis nichts als ein Gerüst der Notwendigkeiten übrig bleibt? Eine Antwort auf diese Fragen geben nicht nur abstrakte philosophische Abhandlungen oder moralische Traktate, sondern in größter Anschaulichkeit auch die Rechtsbestimmungen zur „Pfändbarkeit“. In der Zivilprozessordnung ist dieser Vorgang unter anderem im §811 geregelt, der einen Katalog der „beweglichen Sachen“ aufstellt, die vom Gerichtsvollzieher nicht entwendet werden dürfen. Diese umfangreiche Auflistung, die seit ihrer Einführung 1879 kaum verändert worden ist, steckt noch voller Lebenswelt des 19. Jahrhunderts. Grundsätzlich legt sie fest, dass dem Schuldner auch nach der Pfändung von Geld- und Wertsachen eine „angemessene, bescheidene Lebens- und Haushaltsführung“ möglich sein müsse. Dazu gehören, in der heute noch gültigen Fassung des Paragraphen, „eine Milchkuh oder nach Wahl des Schuldners statt einer solchen insgesamt zwei Schweine, Ziegen oder Schafe“, „bei Arbeitnehmern in landwirtschaftlichen Betrieben die ihnen als Vergütung gelieferten Naturalien“ oder „die zum Betrieb einer Apotheke unentbehrlichen Geräte, Gefäße und Waren“.
Die Gesetzestexte zur Pfändbarkeit entsprechen also schon lange nicht mehr der urbanen Lebensrealität (weshalb der Bundesrat gerade eine Novellierung entworfen hat, die auch eine Modernisierung dieses Paragraphen vorsieht). Wichtiger sind daher einzelne Präzedenzfälle wie das Gießener Urteil vor einem halben Jahr, die den Bestand der unpfändbaren Dinge kontinuierlich anpassen. Ab wann werden etwa technische Medien oder Haushaltsgeräte nicht mehr als Luxusgegenstand, sondern als schützenswerter Bestandteil jener „bescheidenen Lebensführung“ gewertet, die der §811 einfordert? In einem Aufsatz der „Deutschen Gerichtsvollzieher-Zeitung“, der ergiebigsten Quelle für diese Probleme, heißt es einmal, dass „der Gerichtsvollzieher dem Schuldner nichts Überflüssiges belassen darf“. Aber was genau heißt das im Jahr 2012? Und wo liegen die Unterschiede zum Jahr 2002, 1982 oder 1952? Der „nackte Mensch“, das wird durch die wandelbaren Liste des Unpfändbaren rasch deutlich, hat eine Geschichte.
Ein besonders hart umkämpftes Beispiel für die Erweiterung des Katalogs ist der Fernseher. Heute gilt er längst als kategorisch unpfändbarer Bestandteil eines Haushalts, weil er die „Teilnahme am öffentlichen Leben“ ermöglicht. Doch in den ersten zwanzig Jahren nach seiner flächendeckenden Verbreitung in Deutschland zählte er zu den überflüssigen Dingen; wenn es ein Radio im Haushalt des Schuldners gab, war das Recht auf Information bereits gedeckt. Im Mai 1977 dann erklärt das Landgericht Nürnberg erstmals einen Schwarz-Weiß-Fernseher kategorisch für unpfändbar, was in der „Deutschen Gerichtsvollzieher-Zeitung“ eine jahrelange Debatte auslöst. Die Juristen streiten über die Frage, ob die bisherige Hierarchie der Geräte „angesichts der Entwicklung, die das Fernsehen in den letzten Jahren genommen hat, überholt“ sei. Einige Autoren halten das Radio weiterhin für ausreichend, da das Rundfunkprogramm in gleicher Weise organisiert sei wie das Fernsehen. Andere Beiträge bestreiten das: „Der Hörfunk“, heißt es einmal, „vermag schon deshalb nicht all das zu leisten, was Fernsehen vollbringen kann, weil er lediglich akustisch anspricht, ihm mithin die ,visuelle Dimension‘ fehlt.“ Es zeigt sich also, dass Gerichtsvollzieher immer auch Medientheoretiker sein müssen: Denn die Frage, ob „einem Fernsehgerät die Qualität eines eigenständigen Informationsmittels zuzubilligen ist“, wie die Verfechter des Nürnberger Urteils schreiben, hat ganz konkrete, folgenschwere Auswirkungen. Die maßgebliche juristische Antwort entscheidet darüber, ob ein Schuldner seinen Apparat abgeben muss oder nicht.
Seit den frühen Achtzigerjahren gilt der Fernseher als unumstrittener Bestandteil einer „bescheidenen Lebensführung“: ein Prozess, der sich anhand der Pfändbarkeits-Debatten auch für viele andere technische Gegenstände rekonstruieren lässt. Immer ist dabei ein bestimmtes Moment der Verzögerung zu beobachten (wie jetzt auch im Zusammenhang mit dem Computer): Die Differenz zwischen der endgültigen gesellschaftlichen Etablierung eines Geräts und der Festlegung seiner Unpfändbarkeit beträgt ungefähr ein Jahrzehnt. Der Kühlschrank wird erst Anfang der Siebzigerjahre zur rechtlich beglaubigten Notwendigkeit des Haushalts, die Waschmaschine zur selben Zeit wie der Fernseher. Im Jahr 1967 schmetterte das Landesgericht Köln die Klage einer siebenköpfigen Familie auf Erhalt des Geräts noch ab: „Obwohl die Zahl der Besitzer einer Waschmaschine in den letzten Jahren erheblich gestiegen ist“, so das Urteil, „gibt es noch zahlreiche Familien – auch in gehobener sozialer Stellung –, die keine Waschmaschine besitzen. Die Schuldner müssen eben, wie das früher allgemein üblich war, die Wäsche mit der Hand waschen.“ In den Jahren darauf überwiegt aber zunehmend die entgegengesetzte Auffassung, und ein Kommentar zur Zivilprozessordnung von 1977 erklärt die Waschmaschine für kategorisch unpfändbar. Heutige Schuldner, so die aktuellen Erläuterungen zum §811, dürfen „generell“ jene technischen Geräte behalten, die „im Sinne einer sachgemäßen Haushaltsführung der Ordnung und Sauberkeit dienen“; manche Dinge aber, wie die Spülmaschine, die Gefriertruhe oder auch die Einbauküche, sind keine wesentlichen Bestandteile des Haushalts und „in der Regel pfändbar“.
Wenn es um die Festlegung der Grenzen zwischen notwendigen und luxuriösen Gegenständen geht, bleibt in der Rechtsprechung immer ein Rest an Willkür. Wo genau liegen die Kriterien, die den Computer oder seit 2006 auch das einfache Handy für unantastbar erklären, Geräte wie den Anrufbeantworter, die Videokamera, den CD-und DVD-Spieler oder das Smartphone aber schon? Es gibt also eine „Ideologie“ der Pfändbarkeit, die Begriffe wie „Bescheidenheit“ oder „Überfluss“ mit einer bestimmten Weltanschauung auflädt. Manchmal ist diese Ideologie ganz deutlich zu greifen. Als die Rechtsprechung zum §811 nach 1933 etwa das Radio als unpfändbar bezeichnet, wird dies ganz ausdrücklich mit der neuen politischen Bedeutung des „Volksempfängers“ begründet. Der Rundfunk sei, wie es das Oberlandesgericht Frankfurt 1934 formuliert, für die „noch erforderliche Schulung des Erwachsenen i. S. des nationalsozialistischen Gedankengutes“ unentbehrlich. Nach dem Krieg wird die Unpfändbarkeit des Radios zunächst rückgängig gemacht – so als wollte man diesem Medium den nationalsozialistischen Dämon austreiben –, doch nach einigen Jahren, so die „Deutsche Gerichtsvollzieher-Zeitung“, setzt sich „die Einsicht durch, daß der Rundfunkempfänger die politischen Krisen unberührt überstanden und sich in breitesten Schichten der Bevölkerung als übliches Informationsmittel erhalten“ hat.
Heute fällt die weltanschauliche Prägung der Rechtsprechung feiner aus. Sie ist aber noch zu erkennen, etwa an der Leitdifferenz von „Information“ und „Zerstreuung“, die im Grunde die gesamte Grenzziehung zwischen unpfändbaren und pfändbaren Medien organisiert. Warum gelten Stereoanlage und DVD-Player als überflüssige Dinge? Ein Kommentar zur Zivilprozessordnung von 2002 gibt unmissverständlich Antwort: „Die Beziehungen zur Umwelt und die Teilnahme am kulturellen Leben gehören heute zu einer angemessenen Lebensführung, aber nicht der Unterhaltung dienende Geräte.“ Der Status der unpfändbaren Dinge gewinnt hier eine neue Qualität, weil er die rein materielle Ebene verlässt. Es geht nicht mehr um die Gegenüberstellung von notwendigen oder luxuriösen, einfachen oder teuren Gegenständen, sondern von notwendigen oder luxuriösen Daten. „Information“ oder „Unterhaltung“? Dieser Unterschied kann nicht quantitativ beziffert werden.
Im Problem der Pfändbarkeit schimmert also ein ganzes Menschenbild durch. Es besagt, dass noch der höchstverschuldete Bürger politisch informiert bleiben soll, aber nicht mehr für sich alleine Musik hören oder DVDs schauen darf. Zum Kampf gegen die „Zerstreuung“ kommt also noch ein zweites ideelles Element hinzu: die Glorifizierung der „Teilnahme“, der Partizipation am gemeinschaftlichen Leben. In der Grundausstattung des Besitzlosen zeichnet sich noch einmal das politische Ideal des Staatsbürgers ab. Genau in dieser Tradition haben letztlich auch die fortschrittlichen Juristen Ende der Siebzigerjahre argumentiert, als sie den Fernseher von einem pfändbaren in ein unpfändbares Gut verwandelten. Denn ihre Grundthese lautete, dass das Gerät nicht allein ein Unterhaltungsmedium sei. „Fernsehen“, so ihr Argument, „ist vielmehr durch sein visualisierendes Moment dem Hörfunk auch im Bereich der Bildungsprogramme eindeutig überlegen, da es mit Hilfe der Optik wesentlich leichter gelingen kann, Vorgänge aus der Biologie, Chemie und Physik einleuchtend darzustellen.“ Die aktuellen Debatten um die Zwangsvollstreckung von Handys und Computer beruhen weiterhin auf denselben Voraussetzungen: Notebooks sind bereits am rettenden Ufer der Information und Gemeinschaftlichkeit angekommen, Smartphone oder iPads verharren weiterhin im Sumpf selbstbezogener Zerstreuung.
In einem grundsätzlichen Aufsatz der „Deutschen Gerichtsvollzieher-Zeitung“ stellt ein Autor einmal die Überlegung an, ob man „auf den Schuldner als Zeitgenossen“ eingehen müsse. Die Entscheidungen der letzten Jahrzehnte haben diese Frage längst beantwortet. Der Katalog der unpfändbaren Dinge ist einer der feinsten historischen Indikatoren unserer Zeit.
zuerst erschienen im SZ-Magazin, Heft 13/2011