Die ewig diskutierten, bisher jedoch nur spärlichst eingeführten “neuen Inhalte” werden das Fernsehen als Leitmedium nicht retten. Dagegen erfreut sich der Second Screen steigender Beliebtheit.
Wer noch bezweifelt, dass Paralleluniversen existieren, muss sich gelegentlich das Nachmittagsprogramm von N3 ansehen. Das Dritte des NDR brachte am 2. Juni 2013 unter dem Titel „Unser NDR – reden wir drüber!“ eine Live-Übertragung vom Landpartie-Fest in Plön. Mit von der Partie war die Führungsspitze des NDR – Intendant Marmor (auch ARD-Vorsitzender), der Fernsehdirektor, der Hörfunkdirektor und der Direktor des Landesfunkhauses.
Wer jetzt erwartete, es ginge um den Rundfunkbeitrag, die Transparenz der Finanzen und der Entscheidungen des Senders oder darum, aus der Perspektive der Internet-Erfahrungen junger Generationen neue Programmformate zu entwickeln, sah sich grundlegend getäuscht.
Zu Wort kamen heavy user der öffentlich-rechtlichen Angebote, längst nicht alle über Siebzig, und sie verlangten mehr (!) Volksmusik sowie einmal mehr, einmal weniger Pferdesport im Fernsehen und mehr Jazz im Radio. Unverlangt berichtete Intendant Marmor dann noch, dass der NDR sich nicht nur der Kultur verpflichtet fühlt (siehe oben – Volksmusik), sondern auch der Jugend. Um diese zu begeistern, nehmen die NDR-Fernsehmacher gern Anregungen aus der eigenen Radiowelle N-Joy auf – dort sind die jungen Leute ja zuhause – und bieten manche Inhalte sogar in einem ganz neuen Medium an, im Internet. Das nennt man trimedial!
Das wurde live im Jahr 2013 gesendet, nicht 1998, und der ARD-Vorsitzende schien sich in diesem Universum ganz wohl zu fühlen. Mit den Medienerfahrungen der jüngeren Teile unserer Nation sind diese Gesprächsgegenstände jedoch kaum noch verbunden.
Natürlich sind die Welten nicht nur an der Linie alt/jung geteilt. Neben den Generationsgewohnheiten sollte auch die bildungsspezifische Mediennutzung berücksichtigt werden. Nicht nur Thüringer Rentner, sondern auch junge nordrhein-westfälische Hochhausbewohner sehen fünfmal so viel Fernsehen wie bayerische Gymnasiasten. In den USA gibt es ähnliche Zahlen, dort werden auch ethnische Besonderheiten registriert – die schwarze Unterschicht übertrifft die Thüringer Rentner noch um einiges, und der asiatische Mittelstand ist mindestens so TV-abstinent wie bayerische Studenten. Anders als bei der alten Generation verändert sich jedoch bei den Unterschichten die Mediennutzung dynamisch.
Das Plöner Paralleluniversum ist für die traditionellen Fernsehmacher vor allem auch deshalb in Ordnung, weil die globalen Nutzungsziffern ihre Prioritäten und die von ihnen präferierte Form der Verbreitung zu bestätigen scheinen. Die Fernsehnutzung nimmt nicht ab – also ist Fernsehen relevant – und deshalb darf die Quote mit Relevanz gleichgesetzt werden.
Diese Sicht, die von Intendanten auf medienpolitischen Foren immer wieder verfochten wird, krankt vor allem an einer Stelle, und das ist der Relevanz-Begriff. Welches Medium ist Jugendlichen zwischen 12 und 19 wichtig? Die JIM-Studie 2012 gibt umfassend Auskunft: Musikhören (90%), Internetnutzung (88%), Handynutzung (81%), Radio (56%), Fernsehen (51%). Mit 20 ist für Jugendliche das Fernsehen sogar noch deutlich weniger wichtig als mit 15. Der Sender, den Jugendliche einschalten, heißt ProSieben (51%), gefolgt von RTL (16%), RTL2 (5%) und dem Rest, darunter der ARD (2,5%). Wichtigkeit und eingeschaltet sein ist im Übrigen nicht kongruent: Selbst, wenn das Fernsehgerät an der Wohnzimmerwand „on“ ist, muss es nicht das als relevant empfundene Medium sein.
Paralleluniversen gibt es auch in der Forschung. Eine Studie wie „Couchpotato 3.0 – wie wir in Zukunft fernsehen!“ (2012) scheint aus der Zeit gefallen. Die in ihr vorgetragenen Thesen fußen auf Ladenhüter-Prognosen, die schon Mitte der neunziger Jahre verbreitet wurden: Das Lean-Back-Medium Fernsehen ermöglicht eine neue, verständliche und bequeme Form des Internet-Surfens – neue Techniken ermöglichen den zeitsouveränen Abruf von Sendungen – EPGs ermöglichen eine unangestrengte Programmauswahl – automatisierte personalisierte Programmangebote erleichtern die Auswahl noch mehr – Mitmachangebote und interaktive TV-Werbung haben ein großes Potential.
Keine dieser Prognosen ist der Realisierung in den letzten 15 Jahren näher gekommen. Im Gegenteil, es ist heute viel schlimmer als damals: Niemand im Medien-Universum der Jüngeren und Gebildeteren begeistert sich für fernsehzentrierte Zusatzangebote. Der Grund: das Fernsehen selbst – als Medium – interessiert nicht mehr.
In der genannten Studie tauchen weitere Schlagworte auf, die auch aktuell häufig traktiert werden. Die Entdeckung, dass eine Mehrheit der Konsumenten zwei Bildschirmmedien gleichzeitig nutzt, hat nach ersten Irritationen darüber, dass das Fernsehen sein Publikum nicht durchgängig zu fesseln vermag, zur Ausfabulierung einer Roll-Back-Phantasie geführt.
Die Fernsehunternehmen und andere Firmen stellen sich vor, dass die Mediennutzer vom laufenden Fernsehprogramm noch nicht genug haben und deshalb parallel nach Ergänzungen und Zusätzen Ausschau halten – wohl auch, weil sie sonst nichts mit ihren digitalen Gadgets anzufangen wissen. Nutzer, die gleichzeitig zweimal dasselbe Programm wählen, und das eine Mal sich auch noch aktiv mit ihm auseinandersetzen, sind eine paradiesische Vorstellung für Customer Relationship Manager und Marktforscher.
Diese Phantasie trägt die Bezeichnung Second Screen. Es gibt allerdings nur wenige verlässliche Untersuchungen über die Inhalte, die tatsächlich auf dem Laptop, Tablet oder Smartphone genutzt werden, während ein Fernseher läuft. Keinesfalls kann davon ausgegangen werden, dass es primär Angebote oder Inhalte sind, die mit dem Fernsehprogramm korrespondieren. Die allermeisten Nutzer versenden nicht aufs TV-Programm bezogene Textnachrichten oder widmen sich den laufenden Vorgängen auf einer Social Networking Site.
Es drängt sich jedoch eine ganz andere Frage auf, die merkwürdigerweise in Second-Screen-Studien oft gar nicht gestellt wird, nämlich die, ob der Fernsehbildschirm tatsächlich der Screen ist, der die Nutzungspriorität genießt. Wenn das „zweite“ Medium eines ist, dem äußerst aktiv, lesend und schreibend, die Aufmerksamkeit gilt, steht gerade diese Behauptung der Priorität auf papiernen Füßen.
Die Online-Medien haben in unserem Medien-Universum die Funktion des Leitmediums übernommen. Diese kann auch durch spitzfindige Fragestellungen nicht irritiert werden. In der erwähnten JIM-Studie erklären 12- bis 19-Jährige, die Tageszeitung (48%) sei das glaubwürdigste Medium, weit vor Fernsehen (22%) oder Internet (11%). Diese Werte sind umgekehrt proportional zur tatsächlichen Nutzung dieser Medien und bilden ein tradiertes, aber nicht durch eigene Erfahrung erworbenes Werteverständnis ab. Von den Zeitungsverlegern war zu diesen Ergebnissen auch kein erleichterter Seufzer zu vernehmen.
Unser Medien-Universum ist das der großen Mehrheit der Internet-Nutzer, ganz gleich, ob per PC, Laptop, Tablet oder Smartphone. Wir erleben gerade mit einem lachenden und einem weinenden Auge die fortschreitende Erosion des Leitmediums Fernsehen, dessen Relevanz sich weder durch Quotenkalkulationen noch durch pathetische Qualitätsbehauptungen glaubwürdig stützen lässt. Die Bestrebungen, das Fernsehen durch Second-Screen-Apps und Social-TV noch einmal attraktiver zu machen, sind zum Scheitern verurteilte Rückzugsgefechte.
Es gibt kein Universum, in dem die Mehrheit der Internet-Nutzer, und schon gar nicht die 15- bis 40-Jährigen, auf das „bequemere“ Internet per TV-Fernbedienung warten. Auch die Second-Screen-App für das iPad, in der es werbeumkränzte Zusatzinfos zu laufenden Sendungen gibt, wird sie nicht begeistern. Und erst recht werden sich nicht als „Social-TV“ getarnte Marktforschungs-Apps als Chance zur partizipativen Mediennutzung verkaufen lassen.
Das Fernsehen ist ein gelegentlich unterhaltsames Begleitmedium. Zum Muss und somit zum First Screen wird es letztlich nur bei Live-Events (Sport, manche Shows). In allen anderen Situationen fesselt das lineare Programm sein Publikum nicht mehr. Dort gilt also: Second Screen first.
Crosspost von Carta.