„Wir brauchen Menschen, die mit Multimedia, Video und Interaktivität die Wikipedia zum Leben erwecken,“ sagt Andrew Lih im Interview auf der Wikimania in London im August 2014. Auf dem jährlichen Treffen der weltweiten Wikipedia-Community trafen auch die videoaktiven Enzyklopädisten zu einem Lunch-Summit zusammen. Unter den Wikipedianern aus Dänemark, Schweden, den Niederlanden, Österreich, Deutschland, Kanada und den USA durfte Andrew Lih nicht fehlen. Er ist Professor für Journalismus an der American University in Washington D.C. und seit 2003 Wikipedia-Editor. Und er hat sich mit dem Projekt Wiki makes Video um die Sache verdient gemacht.
Seine wichtigste Botschaft: „Wenn Du ein aktuelles Mobiltelefon besitzt, hast Du ein hochwertiges Gerät zum Erzählen von Videogeschichten jederzeit griffbereit.“ Ist auch viel weniger aufdringlich als eine große Kamera. „Man braucht keine high-end Geräte, um high-end Geschichten zu erzählen. Die Geschichten werden beim Bearbeiten erzählt, nicht damit, wie viel man für Kameraausrüstung ausgibt.“
Das Mysterium, das Andrew und die anderen in London versammelten Videopedianer antreibt, ist Folgendes: Die meisten von uns haben Kameras. Schnittprogramme werden von den Betriebssystemen mitgeliefert. Wir alle sind in einer mit bewegten Bildern gesättigten Umwelt aufgewachsen. Und tatsächlich werden allein auf Youtube jede Minute 100 Stunden Video hochgeladen. Wir erleben eine Video-Revolution.
Warum aber hat diese bislang in der Wikipedia noch keinen Niederschlag gefunden? Von den 4,5 Millionen Artikel in der englischsprachigen Wikipedia enthalten nur etwa 6000 ein Video. Von den 1,7 Millionen Artikeln der deutschsprachigen Wikipedia sind es etwas über 2000. Bei einer Diskussion mit Commons-Aktiven auf der Wikimania hatten fast alle Anwesenden schon einmal ein Bild auf Wikimedia Commons hochgeladen, aber nur eine Hand voll ein Video. Umgekehrt hat Sound and Vision, das öffentliche Medienarchiv der Niederlande, 2.200 Videos hochgeladen und damit als einzelne Institution fast 5% der insgesamt 50.000 Videos auf Commons. Sowohl bei individuellen wie institutionellen Kontributoren ist also noch reichlich Luft nach oben.
Im Interview spricht Andrew von den Chancen oder genau genommen Selbstverständlichkeiten: Wir leben im 21. Jahrhundert. Artikel über Tanz, Sportarten, Stricken, Kochen sollten nicht nur aus Beschreibungen und Fotos bestehen, sondern zeigen, wie Ballet oder Skateboarding in Bewegung aussieht. Selbst die preisgünstigsten Mobiltelefone können Videos darstellen. Mit mehr audiovisuellen Medien würden nicht nur Menschen, die Lesen können, vom Wissen der Wikipedia profitieren.
Vor allem spricht er über die Gründe für die auffällige Diskrepanz zwischen der Videoexplosion außerhalb und dem Videomangel innerhalb der Wikipedia. Viele betreffen das Medium Video allgemein, einige die besonderen Bedingungen der wichtigsten freien Wissensquelle im Internet „Das Problem ist,“ fasst er zusammen, „wir haben keine Kultur der Multimediaproduktion in der Wikipedia.“
Filmisches Know-how
Zugegebenermaßen gibt es auch außerhalb der Wikipedia nicht viele Menschen, die gute Videos machen. Audiovisuelle Medien sind komplexer als Text. Lesen und Schreiben lernen wir in aller Regel zusammen. Das Lesen von Audiovisionen lernen wir alle ab dem ersten Augenaufschlag, doch nur wenige von uns lernen förmlich das komplementäre Schreiben, die Beherrschung des Mediums als Ausdrucksmittel.
Andrew stellt fest, dass die Techniken, um gute Videogeschichten für Nachrichtenzwecke zu drehen, die er seinen Journalismus-Studenten beibringt, auch für Wikipedianer nützlich sind. Vieles davon ist geronnenes Erfahrungswissen der filmischen Zunft und unmittelbar einleuchtend, wenn man es einmal gesagt bekommt. Z.B. dass es zu weniger interessanten Videos führt, wenn man die Kamera einfach fünf Minuten laufen lässt, als wenn man einen Vorgang gezielt aus verschiedenen Blickwinkeln filmt, um die Aufnahmen dann schneiden zu können, z.B. mithilfe der Five-Shot-Methode. Viel filmisches Wissen – über Achsensprung, die 30-Grad-Regel, Continuity und Jump Cut, Ransprung usw. – ist hilfreich auch für Videopedianer, die kein komplettes Filmstudium absolvieren wollen. Um diese Kenntnisse zu vermitteln, so Andrew, brauche es mehr und bessere Lehr- und Lernmaterialien.
Technische Herausforderungen
Wer mit Video arbeitet, muss eine Menge über Technik wissen, über Kameras, Bitraten, 720p und 1080p, Codecs, Formate und ihre Konvertierung. Die Hürden beginnen bei der Übertragung der Aufnahmen aus der Kamera oder dem Mobilgerät auf den Laptop, setzen sich fort bei der Videobearbeitung und dem Rendern oder Umwandeln in eines der beiden in der Wikipedia zulässigen freien Formate Ogg und WebM und enden mit dem Upload auf Commons und der Einbettung in einen Artikel. „Bei jeder Hürde verlieren wir 10-20% der möglichen Kontributoren,“ sagt Andrew, „bis niemand mehr übrig ist, außer einer Hand voll Hartgesottener.“
Da die Wikipedia allen freies Wissen bringen will, kann sie dieses Wissen nicht in Formaten anbieten, die unfreie Software zu ihrer Darstellung erfordern. Ogg (Theora/Vorbis) und WebM (VP8/Vorbis) sind derzeit die einzigen patentfreien Videoformate. Aktuelle Kameras zeichnen in MP4 oder anderen proprietären Formaten auf. Daher wurde Anfang des Jahres der Community in einem Requests for Comment (RFC) die Frage zur Abstimmung vorgelegt, ob MP4 auf Commons zugelassen werden soll – als Veröffentlichungsformat oder auch nur für den Upload, der vom Server vor der Veröffentlichung in WebM und Ogg transkodiert wird. Das Ergebnis nach einer intensiven, gehaltvollen Diskussion war die Ablehnung. Für eine vollständige oder teilweise Öffnung für MP4 stimmten 205, dagegen 309 bei 7 Enthaltungen von gesamt 521 Teilnehmern an der Abstimmung. Auch wenn die Diskussion fortgesetzt wird, ist Andrew nicht sehr optimistisch, dass der erzielte Community-Konsens zurückgenommen werden könnte.
Die Lage könnte sich mit der nächsten Generation Video-Codecs ändern, bei der VP9 zeitgleich mit HEVC/H.265 angetreten ist. Dass für VP9 keine Patentgebühren anfallen und Google es u.a. in Youtube unterstützt, macht es attraktiv für Hardware-Hersteller, VP9 in Kameras, Mobilgeräten und Grafikkarten zu implementieren. Noch ist der Durchbruch nicht erzielt, doch Google verfolgt das freie Format hartnäckig weiter und hat bereits VP10 angekündigt.
Die aktuellen unfreien Formate lassen sich zwar mit freien Video-Schnittprogrammen wie Kdenlive bearbeiten und dann in WebM rendern. Aber einmal in einem verlustbehaftet komprimierten Format veröffentlicht – gleich ob frei oder unfrei –, lässt sich ein Video nicht weiter bearbeiten. Wollte man auch nur eine kleine Korrektur oder Aktualisierung vornehmen, müsste man das komprimierte Material erneut komprimieren und würde bei VHS-Qualität landen, die sich niemand zumuten will.
Eine Weiterbearbeitung und Remixbarkeit ist prinzipiell möglich. Dazu müssten aber zusammen mit einem veröffentlichten Video auch die zugrundeliegenden Originalaufnahmen und die Projektdateien mit allen Edits zur Verfügung stehen. Das aber scheitert am MP4-Verbot auf Commons. Die Richtlinien, die die Community auf Commons erlassen hat, gelten für fertige, veröffentlichte Werke. Darum geht es hier aber nicht.
Die Lösung, die Andrew und der Kreis der Videopedianer in London diskutiert haben, ist eine Art Toolserver für Content: eine Arbeitsumgebung, in der Produktionsdateien – Original-Footage und Projektdateien – gemeinsam genutzt werden können, um Videos zu erstellen, die dann auf Commons veröffentlicht werden, eine Werkstatt, die sich nicht an die allgemeine Öffentlichkeit richtet, sondern an Produzentinnen, genau so, wie sich der Toolserver (seit 01.07.2014 Wikimedia Labs) an die Software-Entwickler in der Wikipedia-Community richtet.
Das fehlende Puzzle-Teil in der Multimedia-Produktion, sagt Andrew, ist eine Umgebung für das Teilen und gemeinsame Bearbeiten von Videos. Die gibt es nicht für alles Geld der Welt als proprietäre Software, und es gibt sie noch nicht als Freie Software.
Rechtliche Herausforderungen
Neben dem Ausdrucksmittel Video und seinen technischen Hürden sind auch die rechtlichen Fallstricke zu meistern. Hintergrundmusik, Firmenlogos, und die freundlich in die Kamera winkende Nachbarin waren im privaten Bereich von Super-8 und VHS Heimvideos kein Problem. Werden solche Videos heute im Netz veröffentlicht, betreten sie das Minenfeld von Urheber-, Marken- und Persönlichkeitsrecht.
Diese Rechtsgebiete können je nach Nationalstaat sehr unterschiedlich aussehen. Bei der globalen Wikipedia kommt erschwerend hinzu, dass ihr Grundprinzip Urheberrechte beachten für alle Jurisdiktionen der Welt gelten soll, damit ihr freies Wissen überall rechtssicher frei ist. So lässt z.B. das US-amerikanische Copyright Law unter der Fair Use-Doktrin bestimmte, selbst öffentliche Nutzungen ohne Erlaubnis und Vergütung zu. Da es diese Doktrin außer in den USA nirgends sonst gibt, sind Videos, die sich auf diese Freiheit berufen, auf Commons nicht zulässig.
Andrew verweist auf eine Initiative des Center for Media & Social Impact an seiner Universität, Dokumentarfilmer in den USA mit ihren Erfahrungen mit Fair Use zusammenzubringen, woraus ein Statement of Best Practices in Fair Use entstanden ist. Es habe Filmemacher mutiger gemacht, die Grenzen möglichst weit abzustecken. Bislang werden diese auch von der Rechteindustrie akzeptiert. Die Wikipedia könnte, sagt Andrew, einen ähnlichen Effekt haben und die Grenzen des Möglichen auch in anderen Ländern erweitern.
Eine Kultur der kooperativen Video-Produktion
Trotz aller Schwierigkeiten gibt es niedrigschwellige Möglichkeiten, sich für Videos in Wikipedia-Artikeln zu engagieren. In seinem Projekt Wiki Makes Video weist Andrew darauf hin, dass die einfachste Art beizutragen ist, Vorschläge zu machen, für Videos, die Artikel informativer machen. Eine zweite Art ist es, geeignete freilizenzierte oder gemeinfreie Videos im Netz ausfindig zu machen, auf Wikimedia Commons zu laden und in Artikel einzubinden. Der Königsweg aber ist es, eigene Videos für Wikipedia-Artikel zu produzieren. Dazu braucht es Lehr- und Lernmaterialien und bessere Werkzeuge, die den Prozess erleichtern
Das Projekt Videos für Wikipedia-Artikel (VWA), das Grundversorgung 2.0 im Rahmen des BMBF-Wissenschaftsjahrs 2014 – Die digitale Gesellschaft zusammen mit Wikimedia Deutschland, dem Internet Archive und weiteren Partnern durchführt, teilt Andrews Zustandsbeschreibung von Video in der Wikipedia und trägt dazu bei, Lösungen zu entwickeln. Zur Vermittlung von Kenntnissen dienen zuerst die Workshops, die zusammen mit TIDE Hamburg, Alex Berlin und MIZ Babelsberg durchgeführt werden. Daraus entsteht einerseits ein Netzwerk von Offenen und Bürger- und Ausbildungskanälen, in dem auch Wikipedianer ihre Videokenntnisse erweitern können, und andererseits werden aus den Workshops Lehr- und Lernmaterial erarbeitet. Zudem entwickelt VWA zusammen mit dem Internet Archive einen Video-Schnittserver, der den Beginn der kooperativen Video-Produktionsumgebung bildet, von der Andrew gesprochen hat.
Für Standbilder – Fotos, Grafiken, Karten – gibt es eine aktive, lebendige Kultur mit vielen hilfreichen Ressourcen in Commons. Für bewegte Bilder stehen wir damit noch am Anfang. Dabei ist es doch so offensichtlich. Selbst Andrews Studenten fragen ihn, welchen besseren Ort es geben könne als die Wikipedia, um ihre Videos zu veröffentlichen.
Auf Twitter, Facebook, Instagram, Vine, Vimeo, Youtube veröffentlichen Menschen unaufhörlich Videos. Andrews Botschaft: „Wir müssen einen Weg finden, diesen Leuten, die Interesse an Video-Produktion haben, zu sagen, wir haben nicht nur einen Ort für Euch in der Wikipedia, sondern wir wollen Euch beteiligen.“ Dank seiner Aktivitäten und der eines harten Kerns von Videopedianern sind wir auf dem guten Weg.