Für eine Neuerfindung öffentlich-rechtlicher Medien aus dem Internet
Der Inhalt eines Mediums, schrieb Marshall McLuhan in „Understanding Media“, sei „wie das saftige Fleischstück, das ein Einbrecher mitbringt, um den Wachhund des Geistes abzulenken.“ Sehen wir Fernsehen im Internet, lässt uns die wohlige Vertrautheit das Neue vergessen – bis wir feststellen, dass der Dieb mit unseren silbernen Löffeln und persönlichen Daten auf und davon ist.
Nach mehr als zwanzig Jahren Erfahrung mit dem Internet ist eines gewiss: mit kleinen Anpassungsschritten werden wir dem grundlegenden Wandel durch die digitale Revolution nicht beikommen können. Wollen wir das System der öffentlich-rechtlichen Medien retten, müssen wir es vom Internet aus radikal neu denken.
Clash of Cultures
Nachdem Markus Lanz in seiner Show im Januar die Politikerin Sahra Wagenknecht, gelinde gesagt, sehr unhöflich behandelt hatte, startete eine Online-Petition, bei der innerhalb von zwei Wochen 233.000 Unterschriften eingingen. Die Episode ist in verschiedener Hinsicht lehrreich. Sie zeigt die anhaltende Leidenschaft von Menschen für’s Fernsehen und den Wunsch sich zu äußern, aber auch den wahrgenommen Mangel an Angeboten der Sender, dies zu tun. Sie stellt einmal mehr die Bedeutung der Quote in Frage: Während der Sendung war die Mehrzahl der Tweets negativ. Die Petition hat die Zugriffe auf die Sendung in der Mediathek weiter in die Höhe getrieben. Nach Quote war die Sendung ein Erfolg (“äußerst starke 18,2 Prozent Marktanteil”, Quotenmeter, 19.01.2014), nach den qualitativen Reaktionen ein Beispiel dafür, wie Grundversorgung nicht aussehen darf.
ZDF-Intendant Thomas Bellut räumte gegenüber der Petentin ein, die Sendung sei unausgewogen, die Gesprächsführung problematisch gewesen. Vor der Presse beklagte er jedoch, die Berufsgruppe der Journalisten werde im Netz verfolgt. Der Vorsitzende des ZDF-Fernsehrates, Ruprecht Polenz, legte noch eins drauf und sprach vom „digitalen Pranger“, an den der Moderator durch die Petition gestellt worden sei. Polenz, der den Fernsehrat als „Anwalt der Zuschauer“ bezeichnet, der das Anliegen einer ernstzunehmenden ‘Beschwerdekultur’ unterstütze, und sich überzeugt zeigt, „dass die Beteiligung der Zuschauer und Nutzer eine der Aufgaben ist, die den Mehrwert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausmacht und zugleich eines seiner Markenzeichen“ (ZDF-Jahrbuch 2009), kann diese Beschwerde nicht ernst-, sondern nur als Mobbing des Netzpöbels nehmen.
Die Bundesregierung hat mit ihrer Digitalen Agenda zumindest anerkannt, dass das Neuland der digitale Revolution eine umfassende integrierte Strategie erfordert. Doch auch hier prallten politische und Netzkultur aneinander. Nachdem zwei Entwurfsfassungen der Agenda im Netz geleakt waren, klagte Innenminister de Maizière über die „Gier der sogenannten Internetgemeinde nach immer neuen Informationen“. Tatsächlich wurden die Papiere Netzpolitik.org zugespielt, nachdem bereits die Tagesschau über ihren Inhalt berichtet hatte. Dem Massenmedium warf er keine Gier vor. Die Vorwürfe gegen die Netzgemeinde dienten dazu, dem Unmut darüber freien Lauf zu lassen, dass „das Internet aus der Welt der Massenmedien eine Welt der Medienmassen gemacht hat.“ (Peter Glaser)
Grundversorgung für alle
Die Idee der öffentlich-rechtlichen Medien ist so einfach wie in neoliberalen Zeiten skandalös: Wir alle beauftragen, bezahlen und kontrollieren eine journalistisch-redaktionelle Selbstbeobachtung der Gesellschaft im öffentlichen Interesse. Nicht im Interesse der Marketingabteilungen und Lobbyisten von Unternehmen, nicht im Interesse von Politikern an einer gefälligen Hofberichterstattung, sonder im Interesse des Gemeinswohls.
Für den im Artikel 5 Grundgesetz erteilten Auftrag prägte der damalige Juristische Direktor des WDR Günter Herrmann 1975 den Begriff „Grundversorgung“. Er leitete sie aus dem Demokratie- und dem Sozialstaatsgebot ab und erkannte erstmals den Rundfunk als „öffentliche Leistungsverwaltung und sog. Daseinsvorsorge“. Damit knüpft er an Forsthoff an, der in den 1930ern die öffentliche Versorgung mit Gas, Wasser, Strom, Verkehrsmitteln, Post, Telefon usw. als Vorraussetzung für das moderne Massendasein erkannt, nicht jedoch die mit dem ebenfalls staatlich organisierten Radio. 1986 macht das Bundesverfassungsgericht den Herrmannschen Begriff zur Grundlage des dualen Systems, in dem privater Rundfunk zugelassen werden könne, „solange und soweit“ der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Aufgaben der „Grundversorgung für alle“ wirksam wahrnimmt.
In seinem jüngsten Urteil zum ZDF-Fernsehrat betont des Bundesverfassungsgericht erneut, dass die demokratiekonstitutive Leistung aufgrund der „spezifischen Eigenrationalität des privatwirtschaftlichen Rundfunks“ nicht vom Markt geliefert wird, der zudem einem erheblichen Konzentrationsdruck untersteht.
Angesichts der Bedrohung dieses Grundkonsenses im Freihandelsabkommen TTIP sei daran erinnert, dass die EU-Kommission in ihrer „Mitteilung über Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“ von 1996 diese als “Kern des europäischen Gesellschaftsmodells“ bezeichnet und sie zu den Wertvorstellungen zählt, „die allen unseren Staaten gemeinsam sind und die Originalität Europas ausmachen.“
Den Begriff „Public Value“ prägte 1995 Mark H. Moore, Verwaltungswissenschaftler an der Harvard Universität, als neues Paradigma für den öffentlichen Sektor. Wieder ohne Bezug zur medialen Daseinsvorsorge. Den leistet knapp zehn Jahre später die BBC, von der aus es sich über ganz Europa verbreitete. Das öffentliche Interesse, so Moore, sei etwas anderes, als die Summe der individuellen Interessen, und damit der Primat der Politik. Public Value wird bei ihm zu einem Gegenstand der öffentlichen Aushandlung der kollektiv artikulierten und politisch vermittelten Präferenzen der Bürger. Aufgabe des Public Managers ist es nicht in erster Linie, Ergebnisse zu liefern, sondern als Diplomat einen kooperativen Prozess zu lenken, der alle ‘Stakeholder’ einbezieht und auf Legitimität, Fairness und Vertrauen zielt.
Genau die brechen den Anstalten zunehmend weg, vor allem bei den Jungen. Bei ihrem seit Jahrzehnten erklärten Großprojekt, den Generationenabriss aufzuhalten, haben die Anstalten bislang keine Erfolge erzielt. Angesichts der Halbherzigkeit, mit sie den Jugendkanal verfolgen, ist zweifelhaft, wie ernst es ihnen damit tatsächlich ist.
Artikel 5 GG sichert dem Rundfunk eine „dienende Freiheit“. Seine spezifische öffentliche Leistung kann er nur in journalistisch-redaktioneller Autonomie erbringen. Damit stellt sich die vertrackte Aufgabe einer staatlich organisierten Staatsfreiheit, die im ZDF-Urteil im Zentrum stand und mit der Deckelung der staatlichen Vertreter in den Aufsichtsgremien auf ein Drittel sicher nicht abschließend beantwortet ist.
Das Bundesverfassungsgericht sieht in seinen Rundfunkurteilen konsistent Public Value darin, Meinungsvielfalt zu sichern und „die Darstellung, Verarbeitung und Interpretation der Wirklichkeit in ihren vielfältigen Bewertungen sowie zahlreichen Brechungen des Gemeinwesens ins Werk zu setzen.“
Das Bundesverfassungsgericht spricht ferner den öffentlich-rechtlichen Medien durchgängig eine Entwicklungsfreiheit, ja eine Verpflichtung zu, Innovationen programmlicher und technischer Art zu fördern. Dem sind die Anstalten unter Begriffen wie ‘Neue Medien’, ‘Mediendienste’ und aktuell ‘Telemedien’ und ‘Konvergenz’ nachgekommen. Allerdings mit angezogener Handbremse und aufgrund des vom VPRT initiierten EU-Beihilfekompromisses von 2007 mit erheblichen Einbußen – Sites wie ZDF.de und WDR.de mussten mehr als achtzig Prozent ihrer Inhalte ‘depublizieren’ – und engen Auflagen, wie der auf sieben Tage begrenzten „Verweildauer“ von Inhalten im Netz.
Vom Internet aus neu denken
Grundversorgung vom Internet aus neu denken heißt zuallererst, Transparenz und Partizipation herzustellen. Die zentralen Werte von Aufklärung und Demokratie bilden die gelebte Grundlage der Internet-Kultur. Wie weit das heutige System davon entfernt ist, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem ZDF-Urteil plastisch gemacht. Auch die Äußerungen von Polenz und de Maizière zeigen, dass die öffentliche Rhetorik noch nicht im eigenen Denken angekommen ist.
Es heißt auch, von den neuen medientechnologischen Bedingung aus zu denken. Grundversorgung im Internet setzt Grundversorgung mit Internet voraus. Datenschutz war bei Presse und Rundfunk gegeben, muss aber in einer Umgebung, in der jede Äußerung mit einer IP-Adresse versehen ist, aktiv hergestellt werden. Netzneutralität, bislang wesentliches Architekturmerkmal des Internet, muss angesichts neuer Geschäftsmodelle der ISPs ebenfalls gesichert werden, damit gesellschaftlich gewünschte Inhalte nicht benachteiligt werden. Suche und Auffindbarkeit, im analogen Rundfunk kein Problem, rücken durch das Suchmonopol von Google und die aufmerksamkeitsbeherrschende Rolle von Plattformen ins Zentrum. Wenn der Markt – zumal an der Schlüsselstelle des Zugangs zum digitalen Weltwissen – versagt, muss die öffentliche Hand im Interesse der Sicherung von Vielfalt und Public Value eingreifen. Eine neue Initiative für einen öffentlichen, europäischen Suchmaschinen-Index, auf den beliebig viele Suchmaschinen aufsetzen können, weist in die richtige Richtung.
Die Medienanstalten haben die Bedeutung von Suche und Netzneutralität für die öffentlich-rechtlichen Medien erkannt. Doch der Blick auf die Infrastrukturen der Öffentlichkeit muss weiter gehen. Wenn Sender ihre mobilen Apps nur für Nutzer anbieten, die bei Apple oder Google registriert sind, drängt sich der Ruf nach Freier Software und Offenen Standards auf. Ein öffentliches, europäisches Betriebssystem für Smartphones forderte unlängst der CCC im Wallstreet Journal, da nur der Staat in der Lage sei, sichere Software als Dienst an der Öffentlichkeit zu entwickeln.
Informationsfreiheits- und Transparenzgesetze sowie Open Data des öffentlichen Sektors sind der Geist der Zeit. Audiovisuelle Archive jedoch sind, nachdem die gemeinsame Verkaufsplattform „Germany’s Gold“ am Kartellrecht gescheitert ist, gar kein Thema mehr. Damit ist die Kollision von Regulierungsfeldern und Regulierungsebenen angesprochen, die die Konvergenz von Rundfunk und Internet auslöst.
Das Projekt eines Medienstaatsvertrags zwischen Bund und Ländern unter Federführung von Olaf Scholz soll hier Abhilfe schaffen. Allerdings hat Scholz in seiner Grundsatzrede vom Juni die Erwartungen zurückgedreht: Die von der Sache her gebotene Harmonisierung des zerspitterten Medienrechts und eine Föderalismusreform III seien nicht realistisch. Nur kleine, pragmatische, weitgehend formale, ja langweilig wirkende Schritte sieht er als möglich.
So nachvollziehbar die realpolitischen Zwänge, so bedauerlich die Konsequenzen: Kleine Reformschritte werden bestehende Systeme immer nur im Rahmen ihrer Pfadabhängigkeit vorantreiben. Sie müssen den grundlegenden Medienwandel verfehlen.
Schaffen wir es nicht, die Öffentlich-Rechtlichen ebenso grundlegend neu zu erfinden, dann ist beides verloren: das Internet muss ohne eine öffentlich qualitätsgesicherte Berichterstattung auskommen, und die Anstalten werden eher über kurz als über lang ihre Legitimation verlieren.
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Der Text erscheint im Dossier “Öffentlich-rechtlicher Rundfunk”, Ausgabe Nr. 6/14 der Zeitung “Politik & Kultur” des Deutschen Kulturrates.